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100 Kandidatinnen und Kandidaten auf 20 Listen wollen für Graubünden in den Nationalrat – so viele wie nie zuvor.
Olivier Berger
In der Theorie ist die Ausgangslage zu den diesjährigen Nationalratswahlen in Graubünden schnell erzählt: Weil Silva Semadeni nicht wieder antritt, muss die SP ihren Sitz in der fünfköpfigen Delegation verteidigen. Aufgrund der aktuellen Kräfteverhältnisse zweifelt eigentlich niemand ernsthaft daran, dass das den Genossinnen und Genossen gelingen wird.
Die übrigen vier Bisherigen würden gerne für eine weitere Legislatur nach Bern reisen: Heinz Brand und Magdalena Martullo (beide SVP), Martin Candinas (CVP) und Duri Campell (BDP) treten erneut an. Wenn in Graubünden alles seinen gewohnten Gang nimmt, ändert sich im Oktober – nichts. Jedenfalls nicht an der parteipolitischen Zusammensetzung der Berner Delegation.
Keine Bisherigen-Garantie
Ganz so einfach, wie die Sache auf den ersten Blick scheint, ist sie in Wirklichkeit aber nicht. Bei den beiden letzten Nationalratswahlen im Kanton musste immer jeweils ein Bisheriger über die Klinge springen: Im Jahr 2011 traf es FDP-Mann Jürg Michel, der durch den Grünliberalen Josias F. Gasser ersetzt wurde. Gasser selber verlor sein Mandat vor vier Jahren an die SVP und Martullo. Der Bisherigen-Bonus ist also auch in Graubünden längst keine Garantie mehr für die erfolgreiche Wiederwahl.
Für die SVP, die etwas überraschende Gewinnerin der Wahlen 2015, kommt dazu, dass sie ihren Sitzgewinn nur hauchdünn schaffte. Am Ende gaben rund 300 Stimmen den Ausschlag. Mit dazu beigetragen haben damals der massierte Auftritt der Volkspartei mit vier eigenen Listen (zwei Hauptlisten, die Junge SVP und die SVP International) sowie die Allianz mit der Kleingruppierung Patriotisch Liberale Demokraten.
Listen über Listen
Das Erfolgsrezept der SVP wird von einem Teil der Bündner Parteien heuer munter kopiert. Das hat die Zahl der eingereichten Wahllisten – auch dank einer Neuregelung des Bundes zu den Unterschriftenzahlen für die Wahlvorschläge – explosionsartig in die Höhe schnellen lassen. Nicht weniger als 20 Wahllisten wurden bei der Standeskanzlei Graubünden fristgerecht angemeldet.
Einzig die Verda – Grüne Graubünden tritt mit nur einer Liste an. Rekordhalterin ist erneut die SVP, die es diesmal auf gleich fünf Listen bringt, ein «Team 60+» inklusive. Die FDP schickt vier Listen ins Rennen, darunter je eine sogenannte Supporterliste aus der Gemeindepolitik und der Wirtschaft. CVP und SP setzen auf je eine Hauptliste und zwei Listen der Jungen; bei der GLP und der BDP sind es jeweils eine Hauptliste und eine Liste der eigenen Jungpartei.
Es ist vieles offen
Die beiden SVP-Sitze geraten zusätzlich unter Druck, weil BDP, CVP und FDP samt ihren mannigfaltigen Unterlisten zu einer Listenverbindung der bürgerlichen Mitte zusammengefunden haben – gleich wie das linksgrüne Lager mit SP, Verda und GLP. Damit muss die SVP als einzige Partei aus eigener Kraft zwei Mandate verteidigen.
Allerdings ist die SVP nicht die einzige Partei, welche unter Druck steht. Die letzten Wahlresultate sprechen auch nicht unbedingt für die BDP. Und spätestens seit den – vom Baukartell-Skandal überschatteten – kantonalen Wahlen von vergangenem Jahr hat man sich auch in Graubünden an Überraschungen gewöhnt.
Köpfe Graubündens – sechs wollen weiterhin nach Bern
Heinz Brand ist Präsident der kantonalen SVP; im Jahr 2021 soll er Nationalratspräsident werden. Dafür muss er seinen Sitz aber erst verteidigen.
Duri Campell war im Jahr 2014 höchster Bündner. Seit vier Jahren politisiert er in Bern. Seine Wiederwahl hängt von der Verfassung der BDP ab.
Martin Candinas sitzt seit den Wahlen 2011 im Nationalrat. Er ist längst zur nationalen Grösse geworden. Ihm trauen viele ein Topresultat zu.
Stefan Engler ist Präsident der CVP Graubünden und war vor seiner Wahl in den Ständerat im Jahr 2011 Regierungsrat. Seine Wahlchancen sind intakt.
Magdalena Martullo (SVP) ist Chefin der Ems-Chemie AG. 2015 wurde die Tochter von Christoph Blocher überraschend in den Nationalrat gewählt.
Martin Schmid war Regierungsrat, bevor er im Jahr 2011 in den Ständerat gewählt wurde. Im Kampf um die Wiederwahl hat er Konkurrenz erhalten.
Der grosse Sturm aufs «Stöckli»
Ständerat Die Wahlen ins «Stöckli» fanden in Graubünden seit dem Jahr 1848 kaum je so viel Beachtung wie im laufenden Jahr. Das lag in der Vergangenheit vor allem an der Ausgangslage. Nach der Gründung des Bundesstaats im Jahr 1848 waren die beiden Bündner Sitze im Ständerat zunächst alleinige Sache der FDP.
Auch danach wurde die Bündner Delegation vor allem durch parteipolitische Konstanz geprägt. Von 1864 bis 1935 stellten stets Freisinn und Katholisch- Konservative die beiden Ständeräte. Von 1935 bis 2011 waren die Bündner Demokraten – die spätere SVP und heutige BDP – zusammen mit der heutigen CVP am Zug. Seit 2011 sitzen die FDP mit Martin Schmid und die CVP mit Stefan Engler in der kleinen Kammer. Beide Bisherigen treten bei den Wahlen vom Oktober wieder an.
Und plötzlich warens fünf
Die bisherigen Angriffe auf die gut 170-jährige Allianz von FDP, CVP und BDP in der Bündner Vertretung verpufften meist – in der Regel war es die SP gewesen, die nach einem der Mandate gegriffen hatte. Bei den Wahlen 2019 ist die Ausgangslage aber höchst unübersichtlich. Erst schickte die SP Jon Pult ins Rennen, dann folgte die Kandidatur der Jungen Grünliberalen Géraldine Danuser.
Später nominierte die SVP – als Reaktion auf eine Listenverbindung der bürgerlichen Mitte bei den Nationalratswahlen im Kanton (siehe Artikel links) – Valérie Favre Accola als Ständeratskandidatin. Zuletzt meldete der Parteilose Timo Stammwitz seine Ambitionen an.
Auch wenn in Graubünden derzeit viele Fachleute davon ausgehen, dass sich an der aktuellen Besetzung der Ständeratsdelegation nichts ändern wird: Eine Überraschung von historischem Ausmass ist bei dieser Ausgangslage möglich. (obe)