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Fruchtbarer Boden für Innovation

Geschichte: Der Aargau ist seit rund 300 Jahren einer der wichtigsten Industriekantone der Schweiz. Welche industriehistorische DNA hat das Zurzibiet?

Fruchtbarer Boden für Innovation

Rudolf Velhagen, Kunsthistoriker, Chefkurator Sammlung und Ausstellungen Museum Aargau. Bild: Isabel Iten

Welche Ereignisse in der Geschichte haben den Aargau als Industriekanton geprägt? Rudolf Velhagen: Der Aargau gehört zu den bedeutendsten schweizerischen Industriekantonen. Die Vielgestaltigkeit des 1803 gegründeten Kantons wirkte sich von Anfang positiv aus: Während im reformierten Berner Aargau bereits zur Zeit der Kantonsgründung neben der Landwirtschaft eine florierende Textilindustrie und in den freien Ämtern die aufblühende Strohindustrie bestanden, ernährten sich die Einwohner/-innen der Grafschaft Baden und des ehemals österreichischen Fricktals hauptsächlich von der Landwirtschaft. 

Zahlreiche Industrieunternehmungen wurden hier gegründet oder sind hier niedergelassen: der Elektromaschinenkonzern BBC (heute ABB), der führende Zementhersteller Holderbank, das Schweizer Chemieunternehmen Plüss-Staufer, der Elektroapparatespezialist Sprecher + Schuh, die Teigknetmaschinen-Firma F. Aeschbach AG, der Konservenhersteller Hero, das Druck- und Verlagshaus Ringier oder die Kabelwerke Brugg, um nur einige Beispiele zu nennen.

Hat auch das Zurzibiet eine industriehistorische DNA?

Das Zurzibiet gilt seit jeher als fortschrittlicher Wirtschaftraum. Es sei hier beispielsweise an die Möbelfirma de Sede erinnert, die ihren Ursprung in einem kleinen, aber feinen Sattlerbetrieb in Klingnau hat. Die Handwerker dieser Manufaktur setzten stets alles daran, Leder in qualitativ bester Form zu Sitzmöbeln zu verarbeiten. Sie setzten ihre jahrelange Erfahrung und ihre ganze Sorgfalt dafür ein, eine einzigartige Qualität für handgearbeitete Ledermöbel zu erschaffen. Heute präsentiert sich de Sede AG als führender Hersteller exklusiver Ledermöbel. Aus dem ehemals kleinen Handwerksbetrieb ist ein Unternehmen gewachsen, das über 110 Mitarbeitende beschäftigt und Möbel in über 69 Länder vertreibt – zum Beispiel in die USA, nach Russland und in den arabischen Raum oder die aufstrebenden Märkte China und Brasilien.

Und ausser de Sede?

Auch Giroflex – das Schweizer Traditionsunternehmen aus dem aargauischen Koblenz – war über Jahrzehnte einer der wichtigsten Bürostuhlhersteller Europas. Obwohl der Name jenseits der Landesgrenzen nur wenig bekannt ist, verdanken wir der Albert Stoll Giroflex AG, wie das Unternehmen früher mit vollem Namen hiess, eine der wichtigsten Erfindungen der modernen Zivilisation: den Federdreh mit Neigungsregler, kurz «Nereg». Die Geschichte fängt mit einem mutigen Unternehmer an: 1870 gründet Albert Stoll im badischen Waldshut seine Fabrik für Bugholzstühle für Cafés, Hotels und Coiffeurgeschäfte. Es ist die erste Bugholzfabrik in Süddeutschland. Um den Schweizer Markt zu bedienen, eröffnet Stoll 1872 auch eine Fabrik in einer Baracke diesseits des Rheins, in Koblenz. Diese beiden Firmen belegen exemplarisch, dass das Zurzibiet ein fruchtbarer Boden für Innovation und Qualitätsbewusstsein ist.

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Vom Würfelzucker bis zur elektrischen Zahnbürste: Aargauer Industriegeschichte in Windisch. Bild: raumprodukt, Zürich

Wann wurden im Aargau die ersten Maschinen für die Arbeit eingesetzt?

Der Berner Aargau, der durch zugewanderte Hugenotten im späten 17. Jahrhundert wertvolle Impulse erhielt, wurde auch führend in der Mechanisierung, der eigentlichen «Industriellen Revolution»: 1810 entstand in Aarau die erste mechanische Spinnerei des Kantons. 1843 zählte man bereits 20 Spinnereien. Damals stand der Aargau in Bezug auf die Industrialisierung an zweiter Stelle der Schweiz. In jener Zeit entwickelte sich gleichzeitig die Strohindustrie im Freiamt zur Hochblüte. Aus Reparaturwerkstätten für Textilmaschinen entstanden nach und nach selbstständige Maschinen- und Metallindustrien. Im Bezirk Kulm breitete sich zudem eine florierende Zigarrenindustrie aus. Die Mechanisierung vollzog sich zuerst an den Wasserläufen. Die zunehmende Verwendung von Dampfmaschinen für die Maschinenantriebe nach 1850 ermöglichte den Industriebetrieben eine freiere Standortwahl. Der Ausbau des Eisenbahnnetzes führte zu weiteren Industriegründungen. Die Elektrifizierung, die im Aargau im letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts einsetzte, ermöglichte das Entstehen neuer Industrien.

Wie sah der Alltag der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zu dieser Zeit aus?

Lange Arbeitszeiten, miserable Entlöhnung und teilweise gefährliche Arbeit in stickiger Luft prägten den Alltag der Fabrikarbeiterinnen und -arbeiter: Die in den Fabriken Beschäftigten arbeiteten für einen Hungerlohn 14 bis 15 Stunden pro Tag während sechs Tagen pro Woche. Sie waren der Willkür des Patrons und der von ihm eingesetzten Aufseher ausgesetzt. Der Tagesrhythmus aller Fabrikarbeiter richtete sich nach der Fabrikuhr.
  

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1972 in Klingnau lanciert: DS-600 alias «Tatzelwurm» von de Sede. Bild: de Sede

Was war an Fabrikuhren speziell?

Es ist überliefert, dass die tägliche Arbeitszeit in der Baumwollspinnerei der Gebrüder Bebié in Turgi von 6 Uhr morgens bis 9 Uhr abends dauerte. Damit die Fabrikbesitzer Öl für die Beleuchtung sparten und das Brandrisiko niedriger halten konnten, zeigte die Fabrikuhr immer bei Sonnenaufgang 6 Uhr an: Im Sommer war deshalb bereits um 4 Uhr in der Früh Arbeitsbeginn, im Winter hingegen gegen 8 Uhr: Der gesamte Tag war dem Willen der Fabrikanten untergeordnet.

Gab es mehr Männer oder Frauen?

In den Fabriken arbeiteten zu einem grossen Teil Frauen, da sie billigere Arbeitskräfte waren als Männer. Erst das Eidgenössische Fabrikgesetz von 1877 regelte die Arbeitszeit und die Arbeitsbedingungen von erwachsenen Fabrikarbeiterinnen und -arbeitern: Das Gesetz begrenzte den Normalarbeitstag auf 11 Stunden, untersagte Frauen- und Kinderarbeit während der Nacht und an Sonntagen.

Was bedeutete der Umbruch von der Elektrifizierung, Automatisierung und bis zur Digitalisierung für die Menschen?

Geschichte – und in diesem Falle auch Industriegeschichte – besteht aus einem Wechselspiel von Kontinuität und Transformation: Die vor über hundert Jahren einsetzende Elektrifizierung muss für unsere Vorfahren genauso revolutionär gewesen sein wie die heutige Digitalisierung für uns. Jede Generation fühlt sich wohl «modern». Mit der Digitalisierung leben wir mehr denn je im Hier und Jetzt und vergessen dabei, dass unser Lebensstandard mit seinen Annehmlichkeiten Resultat eines Prozesses ist.

Mit der Industrialisierung ist die Ökonomisierung unseres Lebens gekommen. Was bedeutet dies aus heutiger Sicht?

Maschinen dienen dazu, unseren Alltag zu erleichtern. Wer möchte heute noch seine Wäsche am Fluss waschen? Wir sind alle dankbar, dass wir im Haushalt unsere «stummen Diener» haben. Dennoch stellt sich die Frage, ob wir alle Helfer wirklich brauchen. Der Optimierungswahn ist in unserer westlichen Gesellschaft mit dem Credo der Schnelligkeit und der Effizienz verknüpft: Die Maschinen erlauben uns, kostbare Minuten einzusparen. Wenn Schnelligkeit und Effizienz oberste Priorität haben, stellt sich unweigerlich die Frage, wie wir die gewonnene Zeit sinnvoll nützen können.

Welche Rolle spielen Roboter in der heutigen Zeit?

Im Unterschied zu Ländern wie Japan, die Objekte als beseelt wahrnehmen, haben wir mit Robotern Mühe: Wer will sich in unseren Breitengraden schon von einem Computer – also einer Maschine – streicheln lassen? Dennoch denke ich, dass wir in Zukunft mit der Präsenz von Robotern rechnen müssen. Sie können aus meiner Sicht lästige Alltagsaufgaben abnehmen. Und sind letztlich Geschirrspül- und Waschmaschine nicht auch schon Roboter? Isabel Iten / Tiziana Ossola 
 

Museum Aargau – «Von Menschen und Maschinen»

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Die Aargauer Industrie hat international Geschichte geschrieben. Erfolgsgeschichten daraus zeigt die grosse Museum-Aargau-Sonderausstellung «Von Menschen und Maschinen».

Als Patron oder Fabrikarbeiter/-in machen die Besucherinnen und Besucher eine Zeitreise durch verschiedene Lebenswelten. Ausgewählte Objekte, Fotografien und einmalige Zeitdokumente vermitteln ein packendes Bild von der Vielfalt, Innovationskraft und weltweiten Vernetzung der Aargauer Industrie. Die Ausstellung zeigt ebenfalls, wie Firmen im Kanton Aargau den strukturellen Wandel der letzten Jahrzehnte gemeistert haben. Sie verweist auf die aktuellen Herausforderungen und stellt zur Diskussion, wie wir arbeiten, produzieren und konsumieren werden. (isi)

Sonderausstellung bis 31. Oktober 2021

Von Menschen und Maschinen – Streifzug durch die Aargauer Industriegeschichte SBB Historic-Gebäude
Lagerstrasse
5210 Windisch
www.museumaargau.ch/menschen-und-maschinen

Museum Aargau hat die Ausstellung zum Anlass genommen, eine neue Publikationsreihe zu starten: Band 1 der «Aargauer Industriegeschichten » widmet sich der wechselvollen Geschichte der Aarauer Teigknetmaschinen-Firma F. Aeschbach AG, die ihre Maschinen bis in die 90er-Jahre des 20. Jahrhunderts weltweit vertrieb.
 

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